Der folgende Streifzug durch die Geschichte des Wieslocher Gymnasiums wird mit freundlicher Genehmigung seines Autors, Dr. Anton Ottmann, veröffentlicht. Er erschien am 14. Januar 2021 in der "Wieslocher Woche".
Von Dr. Anton Ottmann
Nachdem 1803 die Kurpfalz aufgelöst und der rechtsrheinische Teil an das Großherzogtum Baden fiel, wurde Wiesloch zum Sitz eines Bezirksamtes. Dies brachte einen Aufschwung in Handel und Gewerbe und gegen Ende des Jahrhunderts auch die Ansiedlung verschiedener Industriebetrieb. Damit wuchs auch eine bildungsbewusste Mittelschicht (spöttisch als „Stehkräge“ bezeichnet), die ihren Kindern mehr als nur die sechsklassige Volksschule ermöglichen wollte.
Der Wieslocher Gemeinderat und der „großherzogliche Schulrat“ gaben dem Drängen zahlreicher Bürger nach und sprachen sich bei der Obrigkeit für eine fünfklassige „Bürgerschule“ aus. Die „Anstalt“ wurde durch „Seiner Königlichen Hoheit dem Großherzog“ genehmigt. Am 15. Oktober 1877 begann der Unterricht mit 21 Schülern in der Sexta (5. Klasse) und 41 in der Quinta (6. Klasse), Mädchen waren nicht erwünscht. Die Klassenzimmer befanden sich im 1874 erbauten Volksschulhaus am Marktplatz neben dem Wieslocher Rathaus und mussten in den Anfangsjahren noch mit den Volks- und Gewerbeschülern geteilt werden. Nach dem 2. Weltkrieg wurden vier weitere Schulräume in einem gegenüberliegenden Gebäude eingerichtet.
Die Wieslocher mussten noch neun weitere Jahre kämpfen, bis aus der höheren Bürgerschule eine Realschule wurde, in der statt Latein die damalige Weltsprache Französisch unterrichtet und eine an den Naturwissenschaften und „Realien“ orientierte Allgemeinbildung vermittelt wurde. 1898 wurde endlich auch die Untersekunda angegliedert, sodass im Jahr 1900 erstmals die „Mittlere Reifeprüfung“ abgelegt werden konnte, was vielfältige berufliche Chancen eröffnete.
Um die allgemeine Universitätsreife (Abitur) zu erlangen, hätten die Schüler dann in das humanistische Kurfürst-Friedrich-Gymnasium in Heidelberg wechseln müssen. Leider fehlten ihnen dazu die Voraussetzungen, da dort, neben einer breiten Bildung in Geistes- und Naturwissenschaften, das Beherrschen der lateinischen Sprache vorausgesetzt wurde. Viele Schüler, vor allem aus dem ländlichen Raum, nahmen deshalb gleich den Weg über die Internatsschulen der Klöster, wo der Unterricht in Latein und Griechisch gang und gäbe war.
Die Schülerzahl nahm in den folgenden Jahren kontinuierlich zu. Darunter waren auch einige Mädchen, die die Realschule allerdings nur mit einer Ausnahmegenehmigung besuchen durften, da in der Stadt für sie keine über die Volksschule hinausgehende Schulbildung angeboten wurde. Erst 1927 wurde die Schule zum Realgymnasium, mit neuen Lehrplänen ab der Untertertia (9. Klasse) und dem Wegfall der Prüfung für die Mittlere Reife. Dafür reichte der erfolgreiche Besuch bis zur Untersekunda (10. Klasse). 1932 wurde die Schule zu einem siebenjährigen Realprogymnasium heruntergestuft, 1938 aber wieder zur achtjährigen „Vollanstalt“ ausgeweitet, mit einem mathematisch-naturwissenschaftlichen und einem sprachlichen Zug.
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gab es große pädagogische Reformen, die geprägt waren von Begriffen wie „anschauliches Lernen“, „Demokratisierung des Unterrichts“ und „Lernen vom Kinde aus“. Dies blieb an den Gymnasien weitgehend unbeachtet, nach wie vor waren Auswendiglernen und enzyklopädisches Wissen wichtiger als selbstständiges und kreatives Arbeiten und Denken. Tugenden wie Ordnung, Sauberkeit, Disziplin und Staatstreue wurden gefördert und belohnt, entsprechende Verfehlungen teils drakonisch bestraft. Vom Gymnasiasten wurde verlangt, dass er sich in der Öffentlichkeit „anständig“ zu verhalten habe. Er unterschied sich nicht nur durch Umgangsformen und Allgemeinbildung von den Schülern der Volksschule, sondern auch durch seine Kleidung, zu der eine Schulmütze gehörte, an deren Farbe die Klassenstufe erkennbar war.
In der Zeit des Nationalsozialismus änderte sich das Schulsystem kaum, dafür waren die Unterrichtsinhalte geprägt durch eine menschenverachtende Ideologie, Kriegsverherrlichung und den „gesunden Menschenverstand“ anstelle wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die meisten Lehrkräfte verhielten sich Regime-treu, jüdische Kinder mussten die Schule verlassen. Schulmützen wurden verboten, erwünscht waren stattdessen HJ- und BDM-Uniformen.
Nach einer Schließung in den letzten Kriegsmonaten wurde am 10. Dezember 1945 der Unterricht am Gymnasium Wiesloch wieder aufgenommen. Zunächst fehlten Lehrer, da die alten zuerst „entnazifiziert“ werden mussten, und es fehlten Bücher, weil alle ideologisch gefärbten nicht mehr verwendet werden durften. Mit viel Improvisation lief der Betrieb langsam an, sodass am Ende des ersten Schuljahres wieder 399 Schülerinnen und Schüler von elf festangestellten Lehrern unterrichtet werden konnten.
Aus dem Realgymnasium wurde 1953 dann das „mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium Wiesloch“. Das Einzugsgebiet der einzigen weiterführenden Schule weit und breit richtete sich nach den öffentlichen Verkehrsmitteln und reichte durch die Straßenbahn bis nach Leimen. Schüler aus Dielheim, Baiertal und Schatthausen, Rauenberg, Mühlhausen, Eichterseim und Angelbachtal kamen mit der SWEG-Nebenbahn, Schüler aus Tairnbach, Rot, St. Leon, Walldorf und Sandhausen mit dem Bus.
Obwohl neben dem Zeugnis der vierten Klasse auch eine schriftliche und mündliche Prüfung Voraussetzung für die Aufnahme war, gab doch eher die Herkunft und weniger die Begabung den Ausschlag, ob ein Kind das Gymnasium besuchen durfte. Für viele Familien war auch das anfangs noch zu zahlende Schulgeld eine Hürde, gegenüber der Lernmittelfreiheit in der Volksschule. Nur wenige Eltern strebten für ihre Töchter den Besuch des Gymnasiums an. Nach weitverbreiteter Ansicht brauchten sie keine höhere Schulbildung, weil sie eh heiraten und Kinder großziehen würden.
Erste Fremdsprache in der Sexta war Englisch, in der Quarta (8. Klasse) mussten die Schüler sich zusätzlich zwischen Latein und Französisch entscheiden. Die meisten Lehrer rieten den Eltern „guter“ Schüler zu Latein. Es ständen damit alle Studienfächer offen, außerdem fördere es logisches Denken und erleichtere das Erlernen romanischer Sprachen. Viele Schüler verließen das Gymnasium schon nach der achten (Untertertia), später nach der neunten Klasse (Obertertia) mit dem Volksschulabschluss. Ein weiterer Schwung hielt noch bis zur zehnten und damit der Mittleren Reife durch. Der oft kleine Rest machte Abitur.
Der Unterricht war streng autoritär und auf Auslese bedacht, was der Schule insgesamt einen guten Ruf bescherte. Doch wie ich selbst erlebte, wurde überwiegend doziert, in Sachfächern lasen manche Lehrer stundenlang aus Büchern vor, und wer in Mathematik nicht mitkam, war „zu dumm dafür.“ Manche erzählten von ihren Kriegserlebnissen oder diskutierten mit uns ernsthaft über das Dritte Reich und den Rassenwahn. Von einer ganz anderen Seite zeigten sich die Lehrer allerdings auf Klassenfesten und Schulbällen, wo sie fast ausnahmslos und von uns Schülern bewundert, das Tanzbein schwangen.
Zur angestrebten Demokratisierung der Schule gehörte die Wahl von Schülervertretern, wobei es durchaus vorkommen konnte, dass ein Klassenlehrer die Wahl eines Kandidaten nicht akzeptierte, da er ihm die Eignung absprach. Einige Lehrer behaupteten auch ernsthaft, dass ein Schüler von der Schulleitung bestraft werden könne, wenn er sich in der Öffentlichkeit nicht „anständig benehme“. Der Schülerzeitung „Die Stimme“ wurde extra ein Vertrauenslehrer vor die Nase gesetzt, der schulschädigende Artikel verhindern sollte. (Inzwischen haben Gerichte längst geklärt, dass auch für Schülerzeitungen Pressefreiheit gilt). Schülerinnen, die schwanger waren, mussten umgehend (wegen „Krankheit“) die Schule verlassen. Möglich war auch, dass ein Schüler als Nichtschwimmer in Sport die Note sechs bekam, obwohl Schwimmunterricht gar nicht stattgefunden hatte. Und: Der Schulleiter, der „aus der Tradition des preußischen Beamtentums stammte“ (siehe Jubiläumsschrift), herrschte mit eiserner Hand über Lehrer und Schüler gleichermaßen.
Mit dem Wirtschaftswunder der 60er Jahre entstand in breiten Schichten der Bevölkerung der Wunsch, dass es den „Kindern einmal besser gehen sollte“. Daraus ergab sich die Forderung nach gleichen Bildungschancen für alle. Dies führte nicht nur zur Lernmittelfreiheit, sondern auch zur Ausweitung der Schullandschaft. Die schon in den 50er Jahren an den Volksschulen angegliederten Mittelschulen wurden nun zu eigenständigen Realschulen mit einer qualifizierten Abschlussprüfung, die wiederum den Übergang zu den neu geschaffenen beruflichen Gymnasien ermöglichte. Humanistische Gymnasien wurden zurück gedrängt zugunsten lebensorientierten neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtungen. Trotz der ständig zunehmenden Schularten in Wiesloch und in der näheren Umgebung und den unterschiedlichsten Wegen zur Hochschulreife, wuchs die Schülerzahl am Gymnasium enorm, alleine von 760 im Jahr 1965 auf 1194 im Jahr 1971.
Mit der Aufgabe des alten Schulhauses am Marktplatz im Jahr 1966 ließ man eine Einrichtung des gehobenen Bürgertums zurück, die über Jahrzehnte hinweg standesgemäße Bildung vermittelte. Im neuen Gebäude im Schulzentrum wurde vor allem Wert auf die Ausstattung mit Fachräumen gelegt, die den modernen didaktischen Erfordernissen entsprachen. In den fast 60 Jahren, die seit dem Umzug vergangen sind, hat das heutige Ottheinrich-Gymnasium zahlreiche Reformen und auch gesellschaftliche Veränderungen, die in die Schule getragen wurden, erlebt und überlebt. Heute ist diese Schulart eine Bildungseinrichtung für Kinder aller gesellschaftlichen Schichten, die mit einem breiten Unterrichtsangebot unterschiedlichste Begabungen zum Abitur führt.
Quelle: Impressionen und Visionen, 125 Jahre Gymnasium Wiesloch, 1877 bis 2002, Herausgeber Gymnasium Wiesloch.